Das Bild vom Ölbaum im Brief an die Römer des Apostels Paulus, Kapitel 11,17–24 gehört zu den wichtigsten Texten im Neuen Testament. Paulus verwendet das Bild vom edlen Olivenbaum für die Juden; mit dem wilden Olivenbaum meint er die Nichtjuden. So warnt er die Menschen, die aus den Völkern über Jesus Christus zum Gottesvolk Israel gekommen sind, vor Überheblichkeit:
Vielleicht hat man dich als Zweig vom wilden Ölbaum
in den edlen eingepfropft.
Dann wirst du jetzt vom Saft aus seiner Wurzel miternährt.
Aber denke nicht,
dass du den anderen Zweigen überlegen bist!
Wenn du es trotzdem tust,
dann denke daran:
Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich!
Es ist ein Bild. Darin ist es so anschaulich wie einprägsam. Eben so hat es auch seine Grenzen. Schon immer haben Ausleger, die das Bild darüber hinaus auspressen wollten, darauf verwiesen, dass man gärtnerisch doch Bäume veredelt und in der Regel edlere Zweige auf einen wilderen Baum aufpfropft. Peter von der Osten-Sacken meint dazu humorvoll: „Vielleicht verhält es sich … einfach so, dass das Stadtkind Paulus im Botanikunterricht mit seinen Gedanken woanders war.“
Zur Ehrenrettung des Apostels kann ich anfügen: Es gibt bei Bäumen das Phänomen der
Inoskulation. Der Begriff leitet sich von der lateinischen Wurzel
in + osculari ab, „nach innen hinein küssen“. Bäume, die diesen Prozess durchlaufen haben, werden in der Forstwirtschaft als
Gemel bezeichnet, vom lateinischen Wort für „ein Paar“.
Meistens wachsen die Äste von zwei Bäumen derselben Art zusammen, aber auch bei verwandten Arten kann eine Inoskulation beobachtet werden. Die Zweige wachsen zunächst getrennt nebeneinander her, bis sie sich berühren. An diesem Punkt wird die Rinde an den sich berührenden Flächen allmählich abgeschliffen, wenn sich die Bäume im Wind bewegen. Sobald sich das Kambium von zwei Bäumen berührt, veredeln sie sich manchmal selbst und wachsen zusammen.