Der folgende Textauszug ist dem Band „Future Tense. A Vision for Jews and Judaism in the Global Culture“ (2009), S. 139f., von Rabbiner Jonathan Sacks entnommen:
Vor sechsundzwanzig Jahrhunderten, im babylonischen Exil, hatte der Prophet Hesekiel die eindringlichste aller prophetischen Visionen. Er sah ein Tal aus trockenen Knochen, einen Haufen von Skeletten. Gott fragte ihn: „Menschensohn, können diese Gebeine leben?“ Hesekiel antwortete: „Gott, Du allein weißt es.“ Da kamen die Knochen zusammen, und es wuchs ihnen Fleisch und Haut, und sie begannen zu atmen und wieder zu leben. Da sagte Gott: „Menschensohn, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Sie sagen: Unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist verloren [awda tikwateinu]. Darum prophezeie und sprich zu ihnen: Das ist es, was Gott sagt: Mein Volk, ich werde eure Gräber öffnen und euch daraus hervorholen; ich werde euch in das Land Israel zurückbringen“ (Hesekiel 37,1-14).
Auf diese Stelle spielte Naftali Herz Imber 1877 an, als er in dem Lied, das zur israelischen Nationalhymne Hatikwa wurde, den Satz od lo awda tikwateinu, „unsere Hoffnung ist noch nicht verloren“, schrieb. Er konnte nicht ahnen, dass siebzig Jahre später ein Drittel des jüdischen Volkes in Auschwitz und Treblinka zu einem Tal der trockenen Knochen geworden sein würde. Wer hätte es ihm verdenken können, wenn er gesagt hätte: „Unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist verloren“?
Und doch hat das jüdische Volk nur drei Jahre, nachdem es dem Todesengel gegenüberstand, mit der Ausrufung des Staates Israel ein bedeutsames Lebensbekenntnis abgelegt, als hätte es durch die Jahrhunderte hindurch das Echo von Gottes Worten an Hesekiel vernommen: „Ich werde euch in das Land Israel zurückbringen“.
Und es wird der Tag kommen, an dem die Geschichte Israels in der Neuzeit nicht nur für Juden, sondern für alle, die an die Kraft des menschlichen Geistes glauben, der sich nach Gott ausstreckt, als ein immerwährendes Zeichen für den Sieg des Lebens über den Tod, der Hoffnung über die Verzweiflung sprechen wird. Israel hat ein unfruchtbares Land wieder zum Blühen gebracht. Es hat eine alte Sprache, das Hebräisch der Bibel, wieder zum Sprechen gebracht. Es hat den ältesten Glauben des Westens genommen und ihn wieder jung gemacht. Es hat eine zerrüttete Nation wieder zum Leben erweckt. Das bleibt der jüdische Traum. Israel ist das Land der Hoffnung.